Anorexie, Ansteckungstheorie und trans

Alice Schwarzer hat im Jahr 2022 die trans-Bewegung als Modeerscheinung bezeichnet. Durch soziale Medien, so spekulieren auch andere trans-kritische Gruppierungen und Personen (insbesondere radikale Feminist:Innen), finde eine soziale Ansteckung statt. Diese soziale Ansteckung versucht man mit bestimmten Krankheiten zu vergleichen, wie u.a. der Dissoziativen Identitätsstörung oder auch der Magersucht (Anorexie). Kürzlich erst hat mir ein Bekannter dazu einen medizinischen Artikel (mit folgendem Link kann der Artikel ohne Paywall downgeloadet werden: Link) zukommen lassen, der für einen Laien ohne psychologische Vorkenntnisse durchaus den Eindruck erwecken kann, dass u.a. die Magersucht sozial ansteckend wäre. In diesem Zusammenhang wird von einer „Ansteckungstheorie“ gesprochen.

Doch beginnen wir von vorne:

Ich denke, wir sind uns einig darin, dass die sozialen Medien einen enormen Einfluss auf unser Verhalten haben. Mit absoluter Sicherheit trifft das auch auf unser Essverhalten, unser Körpergefühl und auf den Anspruch zu, den wir an uns stellen, wenn es um das Körpergewicht geht. Ich glaube auch, dass der Einfluss so mächtig ist, dass sich vorübergehende Symptome einer Essstörung entwickeln können. Die Frage ist nur, ob es sich hierbei um eine tiefgreifende, schwere Magersucht handelt, die ihre Wurzeln in der frühen Kindheit trägt, oder ob es eine vorübergehende Entwicklungsphase mit psychopathologischen Mustern ist, wie man sie u.a. auch bei dem Phänomen der Dissoziativen Identitätsstörung vorfinden kann.

Hinzu kommt, wie ich bereits auf der Seite der Dissoziativen Identitätsstörung schrieb, der kulturelle Einfluss. Ich zitiere meine eigenen Zeilen:

Das dissoziative Ich-Erleben ist ein subjektiver Vorgang. Kultur spielt dabei eine ganz wesentliche Rolle. Schon alleine deswegen, weil die Symptomatik bzw. das Seelische versprachlicht werden können. So ist es – um nur ein Beispiel zu nennen – sehr unwahrscheinlich, dass Menschen aus der Dritten Welt, die an Hunger leiden, eine Magersucht entwickeln. Die Sprache der Magersucht findet dort keinen Nährboden. In einer Welt, in der man hungern muss, kann man nicht hungern, um zu verdeutlichen, wie fähig man ist, die Kontrolle zu behalten (um nur einen Aspekt zu benennen, der hinter der Magersucht stehen kann).

Marvel Stella: Dissoziative Identitätsstörung

In unserer westlichen „überfütterten“ Kultur kann man mit einer Magersucht Kontrolle, Selbstbeherrschung und Disziplin zum Ausdruck bringen; Werte also, die als Stärke gelten. So liegt in Folge der Verdacht nahe, dass die Krankheit von so manch einem sogar als begehrenswert und „chic“ gilt, im Gegensatz zur Bulimie, eine Essstörung, die mit Kontrollverlust und Disziplinlosigkeit assoziiert wird. Hinzu kommt der kulturelle Schlankheitswahn: Wer als Frau nicht schlank ist, hat es in dieser Gesellschaft sehr schwer.

Nun muss man sich bei all den Faktoren allerdings die Frage stellen: Warum entwickeln dann nicht alle Mädchen und Frauen einfach mal so eine Magersucht? Der Grund steht in dem Artikel, den man mir jüngst zur Verfügung gestellt hat. Unter „Klinische Implikationen des Einflusses von Gleichaltrigen“ steht:

„Es ist wichtig zu erkennen, dass nicht alle Jugendlichen gleichermaßen anfällig für den Einfluss von
Gleichaltrigen sind. Die individuelle Anfälligkeit hängt von einer Vielzahl biopsychosozialer
Merkmale ab, zu denen auch die Verteidigungsstruktur des Patienten gehört, die in einem
psychiatrischen Behandlungsplan umfassend berücksichtigt werden muss.

Der Einfluss Gleichaltriger trägt dazu bei, ein soziales Umfeld zu schaffen, in dem restriktive Diäten verstärkt werden, aber die schwerwiegenden Folgen dieses sozialen Umfelds treten bei anfälligeren Personen auf. Genetische Studien zeigen die multifaktorielle Ätiologie von Essstörungen auf, wobei eine große genetische Komponente teilweise durch Persönlichkeitsmerkmale zum Ausdruck kommt (Wade et al., 2008).“

Social Contagion Anorexia (übersetzt ins Deutsche)

Dieser Aspekt ist ein ganz wesentlicher Faktor. Somit steht schon einmal fest, dass es eine bestimmte Voraussetzung – unter anderem auch eine Genetische – dafür braucht, um Symptome unterschiedlichen Ausmaßes einer Essstörung entwickeln zu können. Eine Person, die keinerlei Voraussetzungen erfüllt, entwickelt gar nicht erst den pathologischen Wunsch und Willen zu hungern, selbst wenn sie abnehmen will.

Und selbst wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, bedeutet das nicht, dass die sozialen Medien eine so schwere Krankheit erzeugen können. Wenn, – ich sprach es oben bereits an – dann können die sozialen Medien eine bereits vorliegende Erkrankung beeinflussend mitgestalten, aber niemals erzeugen. Essprobleme, die sich einzig nur auf Grund der sozialen Medien entwickeln, sind eher oberflächlicher Natur und lösen sich zumeist wieder auf, wenn bestimmte Entwicklungsphasen überschritten oder soziale Kontakte geändert werden.

Die Anorexie an sich ist kein erstrebenswertes Ziel, mit dem man sich anstecken kann, sondern ein Lösungsversuch. So heißt es auf dieser Seite: Essstörungen und soziale Medien (wir haben es bereits im vorherigen Artikel zitiert):

Social Media Aktivität alleine begründet keine Essstörung. Viele Jugendliche erkranken nicht. Essstörungen entstehen durch das Zusammenspiel verschiedener bio-psycho-sozialer Faktoren. Die Erkrankung stellt einen Lösungsversuch dar und ist Ausdruck tieferliegender Konflikte und Belastungen. Bei individueller Verletzlichkeit, Vorbelastung oder manifestierter Essstörung können soziale Medien ein relevanter Faktor sein, der die Erkrankung auslöst, verstärkt oder zur Aufrechterhaltung beiträgt.“

Essstörungen und soziale Medien

Dieser Lösungsversuch ist so gravierend, dass es im wahrsten Sinne um Leben oder Tod geht. Kein Mensch verhungert aus dem eigenen Willen heraus, um abzunehmen und schlank zu sein. Letzteres ist maximal ein auslösender Faktur, aber niemals die Ursache für eine tatsächliche Magersucht. Es geht hier unter anderem um das Überleben der eigenen Identität. Wenn das ICH u.a. im Elternhaus in einer Weise unterdrückt wird, dass es stirbt oder gar nicht erst entsteht, kann es passieren, dass sich jugendliche Mädchen in der Pubertät ein ICH mit dem Namen ANA (Anorexia) gestalten. Über dieses ICH namens ANA agieren diese Jugendlichen und auch späteren Erwachsenen alles aus, was ihnen im Normalfall NICHT erlaubt wird bzw. möglich ist. Durchsetzung, Eigenständigkeit, den Willen, sich zu entfalten, sich von keinem bevormunden zu lassen, die Kontrolle zu haben, eigene Entscheidungen zu treffen, uvm. Da geht es um ganz persönliche Motive und nicht um einen „Virus“, der gerade einmal unterwegs ist und rundherum grassiert, mit dem man sich also einfach mal so anstecken kann.

Der Begriff „soziale Ansteckung“ ist nicht nur – vor allem für Laien – irreführend, sondern auch in höchstem Maße verharmlosend. Er bagatellisiert eine Krankheit, bei der 10 bis 15% aller Betroffenen sterben und es für viele kein Zurück in die Normalität mehr gibt, selbst wenn sie es anstreben. Sie verhungern, obwohl sie auf keinen Fall sterben wollen, sondern unbedingt (sich selbst) leben!

Und genau hier spanne ich den Bogen zu trans Identitäten:

Sie wollen sich selbst leben! Es geht bei der Identitätsfrage eben nicht nur um ein Gefühl. Es macht mich mehr als nur betroffen, wie sehr vor allem radikale Feminist:Innen, aber auch Transfeinde und/oder trans-Kritiker allgemein, versuchen, die Identität von Menschen zu zersetzen und auszulöschen. Dass sich daran sogar Personen beteiligen, bzw. den Prozess verstärken, die es sich ansonsten mit Hilfe eines Vereins auf die Fahnen geschrieben haben, über Bullshit aufzuklären, macht mich beinahe hilflos. Keiner der Besagten hat einen medizinischen/psychologischen Background. Sie beziehen ihre Kenntnisse unter anderem bzw. lediglich von einer Biologin, die sich hauptberuflich mit Fischen beschäftigt.

Nein, das hier ist kein Versuch, gegen Frau Marie-Luise Vollbrecht Stimmung zu verbreiten. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass ihre Kompetenzen in der Transgender-Debatte zu wünschen übrig lassen und dass sie viele Gründe hätte, rein subjektiv und keineswegs objektiv-souverän zu urteilen und/oder aufzuklären.

Vor allem am Thema der Anorexie lässt sich sehr gut nachvollziehen, wie groß die identitäre Bedeutung im Leben eines Menschen ist. Ginge es „nur“ um ein Gefühl, könnte man auch die inzwischen zum Glück verbotene Konversionstherapie wieder einführen. So manch einer scheint das ja mit gewissen Wegweisern zu versuchen.

Es geht aber nicht NUR um Gefühle, die man umkonditionieren kann, indem man u.a. das Denken und die Einstellung verändert. Es geht um Gene, um Biologie, die sich nicht nur auf Gameten bezieht, um Biochemie, um neurochemische Prozesse – um so vieles mehr als nur um die Fortpflanzungsgeschlechter! Ich finde es in höchstem Maße erschreckend, dass auf dem Rücken angeblicher Wissenschaft eine identitäre Demontage und Dämonisierung von trans Personen stattfindet, wie es sie seit 1933 nicht mehr gegeben hat.

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