ROGD & der Vergleich mit Pro Ana

Autoren: Marvel Stella und Nora Sillan

Abigail Shrier baut ihr Buch „Irreversible Damage“ rund um die Argumentation auf, dass Mädchen im Teenager Alter, die psychische Probleme haben, sich zunehmend als trans identifizieren. Zur Untermauerung bringt Shrier auf zahlreichen Buchseiten den Vergleich zu Essstörungen: Magersüchtige sind z.B. davon überzeugt, ihre Essstörung würde all ihre Probleme lösen. Diese Denkweise überträgt sie auf trans, dass junge Mädchen davon ausgehen, eine Geschlechtsumwandlung würde all ihre Probleme lösen. „Viele wollen nicht Mann sein, sondern nur dem Frau-Sein entkommen“ (vgl. Min 52.30, The Michael Shermer Show).
© Nora Sillan

Ja, sehr selten geht es bei der Magersucht darum, dass man sich als Frau generell ablehnt, zumeist ist es „nur“ der Körper, der abgelehnt wird. Der Hauptgrund dafür ist u.a. Missbrauch. »Wenn ich die Weiblichkeit meines Körpers verschwinden lasse und unattraktiv werde, wird mich kein Mann mehr begehren«, so die Gedanken vieler betroffener Mädchen und Frauen. Doch selbst wenn man nicht nur seinen weiblichen Körper, sondern seine Fraulichkeit an sich ablehnt, so macht es generell keinen Sinn, zu dem zu werden, was zur Magersucht geführt hat: nämlich zum Mann.

Das ist allerdings nur eine von zahlreichen Ursachen, die zu einer Magersucht/Essstörung führen können. Unter anderem spielt auch ein unbewusster Protest – zum Beispiel gegen Eltern oder Gesellschaft – hinein. In dem Fall wird das „Hungern“ als Kraft und Stärke wahrgenommen, oftmals die einzige, die man gemäß der eigenen Selbstwahrnehmung noch zur Verfügung hat: die Kontrolle über den eigenen Körper.

Magersucht hat nur wenig mit geordneten Gedankengängen zu tun, man sucht sich diese Sprache der Psyche nicht bewusst aus, um Probleme zu lösen. 90% der Ursachen einer Magersucht liegen im Dunkeln, sind also dem Bewusstsein nicht zugänglich. Um sich die jeweiligen Ursachen der schweren – teils wahnhaften – Störung bewusst zu machen, ist eine Therapie von Nöten, damit andere Strategien erlernt werden, die helfen, u.a. mit den sozialen oder familiären Einflüssen umzugehen.

Dass jemand magersüchtig wird, weil er eine Geschlechtsumwandlung anstrebt, ist sicherlich im Einzelfall möglich, allgemein aber eher untypisch für die Magersuchts-Sprache/Symbolik. Ich befasse mich seit ca. 30 Jahren mit Psychologie, habe hunderte von Anorexie-Betroffenen persönlich kennengelernt und kenne auch deren innerste – teils sehr intime – Motivation. Niemals spielte die Transgenderthematik bei dieser Störung eine Rolle. Ich will damit nicht sagen, dass es so etwas generell nicht gibt, nur ist das dann eher die Ausnahme als die Regel.

Zurück zu Abigail Shrier und ihre Vergleiche zwischen trans und Pro Ana:

Abigail Shrier vergleicht trans Influencer auf Social Media mit Pro Ana-Webseiten, also Blogs, Foren o.ä., die Anorexie teilweise als Lifestyle glorifizieren. Hierzu schreibt Shrier:

Die Pro-Anorexie-Seiten ähnelten einer Reihe von Videos, die das Internet zu kolonisieren begannen: Social-Media-Seiten von Trans-Influencern, in denen geborene Mädchen , die sich selbst als „Transgender-Jungen“ oder „Trans-Männer“ bezeichnen, damit prahlen, wie sehr sich ihr Leben verbessert hat, seit sie mit einer Testosteronkur begonnen haben. Der Rausch, den es ihnen verschafft, die Freude über die „glückliche Spur“ dunkler Haare auf ihrem Bauch, das Verschwinden – wie sie betonen – aller sozialen Ängste.“
Abigail Shrier, Irreversible Damage, S. 50 f.; übersetzt ins Deutsche


Dieser Vergleich mit der Pro-Ana-Bewegung greift allerdings zu kurz bzw. rückt die Identifizierung als trans in die Nähe einer psychischen Erkrankung – ein fataler Rückschritt, der dem aktuellen wissenschaftlich-medizinischen Konsens entgegensteht. Das seit 2022 gültige ICD-11 hat Geschlechtsinkongruenz entpathologisiert, diese ist nicht mehr als psychische Störung eingeordnet sondern als „Zustand mit Bezug auf die sexuelle Gesundheit“. Doch diesen Aspekt lässt Abigail Shrier in ihrem Vergleich (bewusst?) außen vor.

Dass ihre Argumentation zu sozialen Medien und Essstörungen nicht haltbar ist, zeigen auch Forschungen zur Entstehung von Essstörungen, die klar zwischen prädisponierenden, auslösenden und aufrechterhaltenen Faktoren unterscheiden.

In Studien wird das Augenmerk bei Pro-Anorexie-Seiten bzw. Austauschgruppen auf Verstärker-Effekte für die Essstörung gelegt bzw. dass diese der Aufrechterhaltung der Erkrankung durch verspätetes oder unterbliebenes Suchen nach professionellen Hilfsangeboten dienen. Der Einfluss sozialer Medien ist Verstärker, aber nicht (alleiniger) Verursacher einer Essstörung, ist das klare Fazit:

Social Media Aktivität alleine begründet keine Essstörung. Viele Jugendliche erkranken nicht. Essstörungen entstehen durch das Zusammenspiel verschiedener bio-psycho-sozialer Faktoren. Die Erkrankung stellt einen Lösungsversuch dar und ist Ausdruck tieferliegender Konflikte und Belastungen. Bei individueller Verletzlichkeit, Vorbelastung oder manifestierter Essstörung können soziale Medien ein relevanter Faktor sein, der die Erkrankung auslöst, verstärkt oder zur Aufrechterhaltung beiträgt.“
https://www.konturen.de/kurzmeldungen/essstoerungen-und-soziale-medien/
© Nora Sillan

Genauso wie viele andere schwere Störungen (unter anderem auch die Dissoziative Identitätsstörung) spielen bei der Entstehung der Anorexie biochemische und genetische Faktoren durchaus eine Rolle. Hinzu kommt, dass der Auslöser (Trigger) für die Störung durchaus in der Gegenwart liegt/liegen kann, die Ursache/Wurzel aber sehr weit zurückreicht.

Anzunehmen, Magersüchtige würden keinen Hunger verspüren, ist ein Irrglaube. Siehe dazu auch die Redewendung: »Betroffene hungern sich zu Tode.« Sie verspüren einen extrem starken Hunger, der nur vorübergehend gemildert werden kann, wenn der Körper auf „Sparflamme“ umschaltet. Um den Hunger zu besiegen, greifen Betroffene auf zahlreiche „Tricks“ und Mittel zurück. Sie nehmen Abführtabletten – oftmals 50 Stück am Tag – unterliegen regelmäßigen Fressanfällen, woraufhin sie sich übergeben und stundenlang von innen heraus reinigen (mehrere Liter Wasser trinken und immer wieder neu erbrechen). Auch exzessiver Sport gehört dazu, es gilt, mehr Kalorien zu verlieren als aufzunehmen.

Wenn all das nicht mehr ausreicht, um den Hunger zu stoppen, greifen sie auf die Erfahrung anderer Betroffener zurück. Das heißt, hier liegt keine Ansteckung vor, sondern ein Hilfsmittel! Als es noch kein Internet gab, nahm man dafür die Magersuchts-Erfahrungs-Literatur, die als Taschenbücher von Betroffenen gesammelt, mit Notizen versehen und als „best practice-Tipps“ regelrecht verschlungen wurden. Die Möglichkeiten im Internet kamen schließlich erleichternd hinzu.

Die Pro Ana Bewegung

Die mittlerweile (in manchen Ländern wie Frankreich oder demnächst auch Italien unter Strafe gestellte) Pro Ana Bewegung, gibt es in Deutschland weiterhin in einem versteckten Rahmen.

Von ihrer Grundstruktur zeigt Pro Ana starke sektenähnliche Muster, die Bewegung war jedoch – genauso, wie bei trans Personen – niemals eine Form der sozialen Ansteckung. Seit ungefähr dem Jahr 2002 ist Pro Ana von den Vereinigten Staaten (dort existiert Pro Ana seit 1998) stark nach Europa bzw. konkret auch nach Deutschland geschwappt, zunächst im Rahmen von Foren bzw. Message Boards. Für viele Betroffene war das eine „Goldgrube“ und (in Zeiten lange vor der Entstehung von Social Media) der erste Austausch mit „Gleichgesinnten“ bzw. Betroffenen. Die meisten, die in die Bewegung hineingeraten sind, hatten niemals die Absicht, sich zu Tode zu hungern oder die Krankheit als „Lifestyle“ zu pflegen. Sie wollten lediglich Begleitung und Unterstützung, um den Hunger zu besiegen oder von der (verhassten) Bulimie in die (angestrebte) Magersucht zu kommen. In diese sektenähnliche Struktur hineinzugeraten ging sehr schnell, wieder herauszukommen dauerte jedoch weitaus länger. Manche Betroffene waren 10 bis 20 Jahre in der Bewegung verfangen.

Mittlerweile hat sich – dem generellen Trend zu Social Media folgend – die Pro Ana-Szene auf WhatsApp, TikTok und teilweise (trotz Löschbemühungen der Plattform) auf Instagram verlagert, was neue Probleme mit sich bringt (siehe weiter unten im Text).

Nora Sillan hat jahrelang in dieser Bewegung – zumeist undercover – recherchiert und geforscht bzw. die Szene seit 2003 beobachtet. Sie wird darüber in der kommenden Zeit umfangreich berichten. Um die umfangreichen Pro Ana-Strukturen zu erörtern, die abgesehen davon, dass ein zentraler „Guru“ fehlt, beinahe 1:1 mit einer Sekte vergleichbar sind, reicht ein einziger Artikel nicht aus.

Dass es eine Sekte war und ist, wollen viele Außenstehende nicht wahrhaben, immerhin waren (sind) die führenden Kräfte doch fast ausschließlich Betroffene. Genauso waren bzw. sind es zumeist Betroffene, die andere Betroffene rekrutierten. Klassische „Rekrutierung“ fand im Übrigen in den 2000er Jahren in dem Sinne nicht statt, diese hat erst richtig begonnen, als sich Gruppen über WhatsApp zusammengefunden haben. Für diese WhatsApp Gruppen wird – immer noch ! – in Gästebüchern und Blogs Werbung gemacht, also gezielt Mädels mit Essstörung zum Gruppenbeitritt eingeladen. Eine simple Google Abfrage der Suchbegriffe „xxx anonymisiert, um keinem Betroffenen die Suche zu erleichtern xxx“ belegt diesen erschreckenden Trend.

Um zu wissen, wieso sich Betroffene dazu hinreißen ließen, das Zepter in die Hand zu nehmen, muss man das Hierarchiemuster kennen, was in den Bewegungen integriert wurde. In den alten Pro Ana Foren gab es eine Admiss, die gemeinsam mit ein paar Moderatoren (User, die schon sehr lange dabei waren) die Zügel in der Hand hatte, Neulinge freischaltete etc. Abgesehen davon waren es zumeist flache Hierarchien. Doch es bedeutete den einzelnen Usern sehr viel, nach einiger Zeit und reger Foren-Aktivität – mehrere Stunden täglich – „Familymitglied“ zu werden: Das hieß dazuzugehören, angenommen zu sein in einer Parallelwelt, die oft zum einzigen Lebensinhalt wurde.

Mit den aktuellen WhatsApp Ana Gruppen sind es nun strengere Hierarchien geworden, viel mehr „Wettbewerbscharakter“, stärkerer Druck schnell abzunehmen: Wer nicht xx Kilo pro Woche abnimmt, wird zunächst verwarnt und fliegt in Folge raus. Auch gestalten mittlerweile nicht nur Betroffene selbst das Geschehen, sondern seit dem Aufkommen von Social Media unter anderem auch pädophile Männer, die sich als „Ana-Coach“ ausgeben. Damit wurden organisierte und kriminelle Strukturen in die Bewegung eingeschleust, die noch heute in einer überaus gefährlichen Art und Weise Bestand haben, weil deren Ziel vor allem extrem junge Mädchen sind.

Druck, Angst, Konkurrenzdenken und Belohnungs-Bestrafungs- bis hin zu Bedrohungs-Szenarien (inklusive Schuld- und Scham-Aktivierung) bestimmen in der Pro Ana-Bewegung noch heute die Abläufe.

All das ist jedoch weit entfernt von dem, was Anti-Trans-Aktivisten daraus machen. In dem Versuch, trans Personen als krank zu stigmatisieren, begeben sie sich auf den brandheißen Pfad der analytischen Psychologie, wofür die allermeisten keinerlei Ausbildungen und/oder Kenntnisse aufweisen. Und wenn doch, werden diese Kenntnisse entsprechend als Framing eingesetzt.

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